Interview mit Leonie Müller

»Tausche Wohnung gegen Bahncard«

Die vermutlich bekannteste Bahnfahrerin der Welt: 18 Monate lang ist Leonie Müller ohne festen Wohnsitz mit einer Bahncard 100 durch Deutschland gefahren. Referate schreiben bei 200 km/h, auf der ICE-Toilette die Haare waschen, den Pizzaboten aufs Bahngleis bestellen: Eine Tübinger Studentin hat im Mai 2015 ihre Wohnung gekündigt und gegen eine Bahncard 100 getauscht. Seitdem lebt sie in Zügen, pendelt zwischen Universität und verschiedenen Übernachtungsorten.

Über ihre Erlebnisse auf Schienen hat sie nun ein Buch geschrieben. Anlässlich des Kampener Literatur- und Kultursommers reist die Zugnomadin nach Sylt und berichtet am Donnerstag, den 14. Juni, um 20 Uhr, im Kaamp-Hüs von allem, was sie in ihrem abenteuerlichen Jahr auf der Schiene herausgefunden hat. »Tausche Wohnung gegen Bahncard« heißt ihr Buch und handelt »vom Versuch, nirgendwo zu wohnen und überall zu leben«: Sie erzählt davon, wie es ist, wenn alles, was man braucht, in einen 40-Liter-Rucksack passt. Und sie fragt sich, was Heimat in unserer multilokal lebenden Gesellschaft eigentlich bedeutet. Imke Wein führte für das Magazin ProKampen des Tourismus-Services Kampen ein Interview mit Leonie Müller.Zwischen welchen Koordinaten bewegt sich dein Leben heute – eineinhalb Jahre nach deinem Selbstversuch auf der Schiene?
Nach dem Bachelor in Tübingen mache ich jetzt meinen Master in Leipzig. Ich pendele zwischen meiner Mama in Berlin, meiner Oma in Bielefeld, meiner WG in Köln und Orten, wo ich sonst noch Freunde treffen möchte oder eine Aufgabe zu erfüllen habe.Oh nein, WG-Zimmer in Köln, das klingt nach drohender Sesshaftigkeit.
Ich versuche ja keinen Lebensentwurf besonders dogmatisch zu leben. Ich hatte einfach große Lust, mit meiner Freundin in Köln eine Wohnung zu teilen. Einen Rückzugsort zu haben. Ich bin zwar nicht viel dort, aber wenn, dann fühlt es sich gut an. Vielleicht auch deswegen, weil es nur für einen überschaubaren Zeitraum so sein wird. Keine Angst, die Bahncard 100, die »Schwarze Mamba«, nutze ich auch weiterhin, und wenn ich ein paar Tage nicht unterwegs war, überkommt mich die Sehnsucht.Du sprichst von einer immer wieder auftauchenden Sehnsucht, wieder in den Zug zu steigen. Die ist ungebrochen, auch nach deiner ganz intensiven Zeit, die vor drei Jahren begann und 18 Monate später endete. Was magst du besonders am Bahnreisen, den Zügen und Bahnhöfen?
Ich liebe die Bahnhöfe mit all ihren Facetten, besonders den in Leipzig übrigens, das ist der schönste von allen, er ist symmetrisch und riesig, für die Stadt völlig überdimensioniert, weil er früher in einen sächsischen und in einen preußischen Teil untergliedert war. Das ist geschichtlich total spannend. Ich mag es grundsätzlich sehr, in den Sonnenuntergang hineinzufahren, die Abende sind meine Lieblingsreisezeit, und ich mag den weiten Blick in die Natur. An den neuen ICEs gefällt mir übrigens vor allem das LED-Lichtkonzept – die Farbe des Lichts passt sich an die Tageszeit an. Das ist sehr gelungen und komfortabel.Westerland hat übrigens einen Sackbahnhof. Was verbindet dich bislang mit Sylt?
Um den sogenannten Zipfelpass zu bekommen, muss man einmal in den vier deutschen Gemeinden gewesen sein, die ganz im Süden, ganz im Wes-ten, im Osten und im Norden der Republik liegen. In dem Zuge habe ich eine Nacht in List verbracht und war be- geistert, es hat mich irgendwie an Australien erinnert. Da ich jetzt Sylt im Juni erlebe, freue ich mich ganz besonders, einen Badeanzug habe ich in meinem Rucksack auch immer dabei. Ich bin sehr neugierig auf neue Orte. Mit meiner Oma habe ich viele Urlaube gemeinsam erlebt, in Cuxhaven waren wir auch gerne, seitdem liebe ich die Nordsee.
Eine letzte Frage: Würdest du dir manchmal wünschen, dass das Leben wieder langsamer wird?
Wenn man überlegt, dass in Deutschland im Individualverkehr täglich alleine 200 Millionen leere Autositze in der Gegend herumfahren, dann ist das natürlich der totale Wahnsinn, und es muss sich dringend etwas verändern. Ich finde es total spannend, die Entwicklung weiter hautnah zu verfolgen und in Zukunft vielleicht durch mein Dazutun aktiv mitzugestalten. Weitere Projekte und Selbstversuche sind nämlich nicht ausgeschlossen, ich schaue mal, was da kommt.